Endlich! Nach ziemlich langer Zeit wollte ich mal wieder Urlaub machen, etwas herumkommen und mir ein anderes Land ansehen. Einige Überlegungen später fiel die Entscheidung dann auf Finnland und Estland.
Der Urlaub war insgesamt gelungen, die Reise mit der Fähre hingegen seltsam und befremdend. Aber der Reihe nach.
Nach über zwölf Stunden Zugfahrt durch Deutschland, Dänemark und Schweden stehe ich im Terminal am Check-in-Schalter und werde mich gleich in Richtung Schiff begeben. Viel ist noch nicht los, ich bin früh dran. Die Eingänge zum Schiff sind noch geschlossen, sodass ich in der großen Wartehalle Platz nehme. Dort wartet schon eine große Menge rot gekleideter Leute auf ihren Einsatz. Bei ihnen handelt es sich um die Reinigungsfachkräfte, die zum größten Teil aus Osteuropa, Asien und Indien stammen. Einen üppigen Lohn bekommen sie sicher nicht für ihre Arbeit.
Mit der Zeit füllt sich auch die Halle zunehmend, dennoch bleibt es ruhig. Die Leute bereiten sich vermutlich schon emotional auf Ihre Schlafkabine, die man bei einer Fahrt über Nacht zwingend buchen muss, vor. Zumindest dachte ich das. Dann gehen die Tore auf und die Leute strömen durch die Ticketkontrolle. An einigen Stellen wird ordentlich gedrängelt, man kann es anscheinend gar nicht abwarten. Aber warum denn? Was könnten diese Leute denn ernsthaft verpassen? Ganz einfach: Plätze im Bar- und Restaurantbereich sind stark begehrt. Wer möchte schließlich nicht in den Genuss von ach so preiswertem Bier, Schampus und anderem hochprozentigen Stoff kommen? Preiswert? Na ja, ganz so ist es dann eben doch nicht. Zwar gibt es diese Genussmittel auf solchen Personenfähren auf See stets steuerfrei und doch ist es für deutsche Verhältnisse keineswegs erschwinglich. Personen aus Schweden und Finnland hingegen sparen dabei vermutlich tatsächlich Geld.
Ich lasse die Leute also vorgehen und schließe mich dem Ende der Menschenmenge an, immerhin habe ich es nicht eilig. Dennoch erstaunlich, was für eine große Menschentraube so ein Schiff beherbergen kann. Als ich dann in die Empfangshalle trete, bin ich zunächst vom Ambiente erstaunt. Es wirkt in der Tat sehr luxuriös, fast schon dekadent. Das Personal trägt klischeehaft Kapitänskleidung.
Meine Kabine befindet sich im unteren Teil der Fähre, im Zug hätte man das Holzklasse genannt. Ein einfaches 7 qm²-Zimmer mit Waschraum im Gang. Mich stört das keineswegs, immerhin war es günstig und für eine Nacht braucht man ohnehin nicht mehr. Wer tiefer in die Tasche greift, darf dann auch in den höheren Etagen Platz nehmen. Ohnehin sind kaum Leute auf ihren Zimmern und auch die Gänge wirken entsprechend leer. Sucht man sich also nicht – wie im Zug – seinen Platz und wartet dann bis zur entsprechenden Haltestelle? Nein, auf so einer Fähre natürlich nicht.
Schließlich beginnt schon hier für die meisten Leute der Urlaub. Die wollen Dinge erleben, sich bespaßen und wohlfühlen. Vor dem Restaurant hat sich deshalb auch bereits eine riesige Menschenschlange gebildet, die sehnlichst auf Einlass wartet. In der Bar ist man währenddessen bereits munter am Trinken. Mitunter werden dabei auch mal stolze Summen ausgegeben. Einige saufen sich den Start in den Urlaub also schon ordentlich schön.
Während ich also durch die unglaublichen Gänge des Schiffes flaniere, stoße ich immer wieder auf Spielautomaten vom Typ Einarmiger Bandit – natürlich ohne den klassischen „Arm“ -, an denen Leute beiden Geschlechts ihr Glück herausfordern. In Deutschland haben Spielhallen meist eher ein verruchtes Image und auch die Casinos werden oft von Leuten aufgesucht, die für einen Moment auch mal am stereotypischen Geruch von Luxus und Glamour schnuppern möchten – auf der Fähre hingegen ist es eine absolute Selbstverständlichkeit. Was soll’s, man ist schließlich im Urlaub. Zack, hat der feine, geschniegelte Herr neben mir doch glatt stolze vier Euro (!) dem Automaten entlocken können und freut sich offenkundig riesig über seinen Gewinn. Wie viel er vorher schon verloren hat, scheint ihm in diesem Moment sichtlich egal zu sein. Die Blicke der Leute an den umliegenden Spielautomaten hat er jedenfalls definitiv auf sich gezogen. Und schon fallen die nächsten Münzen durch den Schlitz, heute wollen alle das Schiff mit ihrem ganz persönlichen Gewinn verlassen. Der feine Herr hingegen ist zusammen mit seiner Begleitung längst in Richtung Bar gezogen – auf diesen Gewinn muss angestoßen werden, das versteht sich von selbst.
Für jüngere Passagiere gibt es zusätzlich Videospielautomaten (hier kann man sich beispielsweise selbst auf ein Plastikmotorrad setzen und eine virtuelle Strecke abfahren), die jedoch ungenutzt ihr Dasein in der Ecke fristen. Strom verbrauchen sie aber alle – und das sicher nicht zu knapp.
Unweigerlich komme ich am sogenannten Duty-free-Shop vorbei, der schon von außen den Eindruck macht, ein einzigartiger Konsumtempel zu sein. Überall fordern mich Werbetafeln, die mal wieder primär Alkohol bewerben, zum Eintreten und Kaufen auf. Diese Gelegenheit lasse ich mir natürlich nicht nehmen, was sich schon diverse Personen vor mir gedacht haben. Der Laden ist voll, die Leute tragen einen Einkaufskorb oder haben sich gar einen Wagen genommen. Oftmals ist das bereits ein Zeichen dafür, dass hier ein größerer Einkauf getätigt werden soll – und so kommt es dann auch. Allerhand Alkohol, Zigaretten, Süßigkeiten in übergroßen Verpackungen (und dadurch noch teurer), Parfüm, Kosmetik, Kleidung und Spielzeug werden eingepackt. Besonders Markenprodukte sind sehr begehrt. Preiswerte Eigenmarken sucht man vergeblich, möchte hier auch niemand.
Ein Verkäufer hat gerade eine ganze Palette mit Bierkartons in den Laden geschoben und entfernt die äußere Folie. Hinter ihm stehen bereits einige Leute und warten gierig auf die Ware. Solche Dinge werden direkt als kompletter Karton mitgenommen, der oftmals exakt auf den Trolley passt, den viele Leute hier mit sich führen. Man könnte glatt den Eindruck gewinnen, dass Hersteller von Trolleys und alkoholischen Getränken sich bei den Größen abgestimmt haben. Eine ältere Dame verlässt den Laden mit acht Kartons auf ihrem Trolley – damit ist sie gewiss nicht die Einzige. Der Laden selber ist sehr hell beleuchtet und soll einem erneut ein Gefühl von Luxus, Hochwertigkeit und Opulenz vermitteln. Getreu dem Motto: Endlich kann ich mir auch mal richtig teure, angesagte Marken leisten – und alle sehen es. Gekauft habe ich nichts. Auf der Rückfahrt gab es sogar einen Laden mit Sachen ausschließlich von Victoria’s Secret.
Als ich mich dann zurück zu meiner Kabine begebe, begegnet mir eine Gruppe von Leuten, die auf dem Weg in die Sauna ist. Natürlich. Was wäre so ein Schiff schon ohne Sauna, Whirlpool, Dampf- und Schwimmbad?
Die Rücktour verläuft ansonsten sehr identisch, weil die Fahrt erneut über Nacht war und die Schiffe im Übrigen sehr ähnlich aufgebaut/ausgestattet sind.
Die Fähren zwischen Helsinki und Tallinn hingegen wollen die Passagiere primär gar nicht in eine noble Welt verführen, hier geht es zuerst ums Feiern und jede Menge Alkohol. Die Überfahrt dauert zweieinhalb Stunden, die Plätze in Restaurant und Bar sind innerhalb weniger Minuten komplett belegt und überall streifen Leute durch die Gänge, um letztlich doch noch einen Platz abzubekommen. Es ist noch nicht einmal Mittag und schon in der Wartehalle haben die Leute an der dortigen Bar ordentlich Bier gekippt.
Ich gebe mir auf der Hinfahrt das volle Programm Unterhaltung und setze mich direkt in die Menge der feierlustigen Party People, die mehrheitlich im mittleren Alter sind. Zuerst spielt ein Liedermacher altbewährte Klassiker (zu denen er sich nach jedem Lied selbst beklatscht und bejubelt, äußerst seltsam), ehe zum Karaoke aufgerufen wird. Schnell finden sich etliche Freiwillige, die zum Teil mehrfach Lieder zum Besten geben – nicht jeder Ton sitzt, dem Publikum gefällt es offensichtlich trotzdem und die ersten schwingen das Tanzbein. Die Stimmung ist lebhaft.
Gerade einmal die Hälfte der Strecke ist zurückgelegt, schon schleppen sich die ersten angetrunkenen Männer mühevolle zur Toilette. Auf der Rückfahrt nach Helsinki ein sehr ähnliches Bild, aufgrund der abendlichen Uhrzeit aber noch wesentlich ausgelassener. Im Duty-free-Shop klingelt natürlich ordentlich die Kasse. Glücksspiel funktioniert hier sowieso.
Es ist schon erstaunlich, dass eine von außen unscheinbare Fähre zu einem ganz persönlichen Urlaubsdomizil werden kann. Irgendwie fühlt es sich wie eine kleine, vergleichsweise noble Stadt an, in der die Schlafkabinen Hotels sind, der Duty-free-Shop den Supermarkt symbolisiert und das Stadtbild durch Bar, Restaurant, Wellnessbereich und Glücksspiel abgerundet wird. Und nebenbei kann man sich noch einen Spaziergang übers Schiffsdeck gönnen. Eine skurrile, irgendwie dennoch treffende Umschreibung. Vermutlich braucht man eine andere Mentalität und andere Ansprüche, um diese Stadt mögen zu können.
Auf der Rückfahrt kurz vor Stockholm fragt eine Dame das Personal, ob der Laden noch geöffnet hat, sie müsste schließlich noch ganz dringend etwas Alkohol mit nach Hause nehmen – ihr Trolley ist noch komplett unbeladen.
Bleibt mir nur zu sagen: Herzlich willkommen in einer fremden, irgendwie bizarren Welt!
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