Rund viereinhalb Jahre liegt das schreckliche Ereignis nun zurück. Wer erinnert sich heute noch daran, haben wir es nicht längst vergessen, verdrängt? Die Rede ist von der Nuklearkatastrophe von Fukushima, insbesondere dem 11. März 2011.
Genau an diesem Tag war es wieder zu spüren: Die Angst, Fassungslosigkeit und gleichzeitige Ratlosigkeit. Plötzlich wurde wieder deutlich, was eigentlich ohnehin immer klar war: Atomkraft ist nicht sicher und beherrschbar. Mag man die Katastrophe von Tschernobyl im Jahr 1986 noch mit „unsicheren russischen Atomkraftwerken“ gerechtfertigt und abgetan haben, konnte man es sich in diesem Fall nicht so einfach machen. Die Betroffenheit vieler Menschen führte dazu, dass über Monate Tausende bei bundesweiten Mahnwachen auf die Straße gingen. Ihre Forderung war eindeutig: „Sofortige Stilllegung aller Atomanlagen weltweit – Fukushima ist überall!“.
Die damalige schwarz-gelbe Bundesregierung beschloss daraufhin mit Zustimmung von Grünen und SPD einen sogenannten Atomausstieg. Anschließend nahm Angela Merkel acht Atomkraftwerke vom Netz und wurde als „Ausstiegskanzlerin“ gefeiert – obwohl sie nur wenige Monate zuvor gegen den Willen der breiten Mehrheit der Bevölkerung eine Laufzeitverlängerung aller deutschen Atomkraftwerke durchgepeitscht hatte und das tatsächlich als „Revolution“ zu verkaufen versuchte.
Geht es nach dem Atomausstiegsgesetz sollen die letzten Atomkraftwerke erst 2022 hierzulande vom Netz gehen – viel zu spät! Immerhin wird weiterhin täglich strahlender Müll produziert, für den es nach wie vor kein sicheres Endlager gibt, etwa wöchentlich verkehren Atomtransporte, die genau wie die Urananreicherungsanlage im westfälischen Gronau und die Brennelementefabrik in Lingen nicht vom Atomausstieg betroffen sind und eine unbefristete Betriebsgenehmigung besitzen, durch den Nord-Ostsee-Kanal und ohnehin kann eine Regierung diesen halbherzigen Ausstieg jederzeit rückgängig machen. Dass Atomkraftwerke tickende Zeitbomben sind mal ganz außer Acht gelassen.
Doch ist Fukushima wirklich überall? Ist uns diese Situation weiterhin allgegenwärtig? Wer denkt schon noch an diese Katastrophe? Die Medien zeigen kaum noch Interesse für diese Thematik und auch die meisten Menschen mögen denken, dass sich die Lage in Japan längst wieder normalisiert hat und der Alltag zurückgekehrt ist.
Dem ist leider nicht so – ganz im Gegenteil:
Nicht ohne Grund hat die BI Kiel gegen Atomanlagen im November Herrn Kazuhiko Kobayashi zum zweiten Mal in Folge nach Kiel eingeladen. Kobayashi gilt als Kenner der vorherrschenden Lage in Japan, insbesondere in der Präfektur Fukushima und zugleich auch als entschiedener Atomkraftgegner.
Etwa 70 Leute, darunter auch viele SchülerInnen und Lehrkräfte, sind der Einladung ins Kieler RBZ Wirtschaft gefolgt. Der Hörsaal war bis auf den letzten Platz belegt. Gleich zu Beginn stellte Kobayashi klar, dass die japanische Regierung rein gar nichts aus der Atomkatastrophe gelernt hat und im August diesen Jahres das erste Atomkraftwerk wieder ans Netz nahm – gegen den Willen der Mehrheit der JapanerInnen. Der Stromkonzern Tepco und die Regierung versuchen mit allen Mitteln den Eindruck zu erwecken, dass sich die Lage längst zu einem unbedenklichen Normalzustand gewandelt hat. Menschen werden bewusst zurück in die Region Fukushima gelockt, sie werden ganz bewusst belogen.
Kaum vorstellbar sind die Mengen schwarzer Säcke, gefüllt mit verstrahlten Materialien, die sich entlang der japanischen Küste stapeln. Es handelt sich dabei um einfache Müllsäcke, die auf grob fahrlässige Weise gelagert werden: Es geht dabei nicht nur um die Tatsache, dass diese jederzeit aufreißen können, sondern auch um Platzprobleme (eine begrenzte Landfläche für eine auf unabsehbare Zeit steigende Zahl an Säcken) und die tägliche Gefahr, dass ein Tsunami sämtliche Säcke ins Meer spült. Dabei ist kaum absehbar, was das für Folgen hätte. Tepco und regierende PolitikerInnen scheint das nicht zu beunruhigen.
Das Platzproblem hat unlängst dazu geführt, dass auch Wohngebiete und Vorgärten zu Lagerstätten eben dieser Müllsäcke erklärt worden sind. In vielen Wohngebieten müssen die Menschen regelmäßig die verstrahlten Bodenoberflächen abgetragen und in solchen Behältnissen sammeln.
Darüber hinaus werden verstrahlte Flüssigkeiten in schwarzen Tanks gelagert, die gerade einmal auf eine Lebensdauer von vier Jahren ausgelegt sind – viele dieser Behälter werden schon deutlich eher undicht. Riesige Areale, auf denen die Tanks stehen, sind erforderlich. Für die Aufstellung und Betreuung dieser Behältnisse ist Tepco jedoch nicht selber verantwortlich. Alle Arbeitsschritte wurden an Subunternehmen ausgelagert, die wie Tepco selber allesamt an dieser Situation kräftig verdienen wollen. Besonders perfide wird es allerdings, wenn klar wird, dass für die Aufstellung und Instandhaltung beschädigter Tanks AnalphabetInnen und Obdachlose eingesetzt werden. Was aus diesen Schicksalen wird, ist nicht bekannt – lange arbeiten die Menschen dort nicht. Sie werden schon nach kurzer Zeit ausgetauscht und es ist davon auszugehen, dass die Mehrheit mit den tödlichen Folgen der Radioaktivität zu kämpfen hat.
In weiträumigen Gebieten um das Atomkraftwerk hat sich die Lebenssituation der Menschen grundlegend verändert. Kinder können beispielsweise nicht mehr im Freien spielen, weil die Strahlengefahr, vor allem in Flüssen und anderen Gewässern, viel zu groß ist. Deshalb ist es nachvollziehbar, dass Kobayashi bei seinen Vortragsreisen durch Europa Geld sammelt und damit unter anderem Kindern aus dieser Strahlenzone für ein paar Tage Freizeit in der Natur in einem anderen Teil des Landes ermöglicht. Immerhin sind es gerade Kinder, die auf unschuldige Weise in diese Situation hineingezogen worden sind bzw. es weiterhin werden.
Und eben diese Kinder werden für skrupellose Versuche missbraucht: Sie tragen ein Dosimeter um den Hals und täglich zeichnen Lehrkräfte die gemessene Strahlenbelastung auf. Die Zahlen landen dabei auch bei der Internationalen Atomenergie-Organisation (IAEO), einer atomkraftfreundlichen Lobbyorganisation, die anstelle der Weltgesundheitsorganisation einseitige Aussagen zum (gesundheitlichen) Risiko von Atomenergie trifft. Was die gemessenen Werte der Fukushima-Kinder angeht, gibt die IAEO – wie für eine derartige Lobbyorganisation nicht anders zu erwarten – absolute Entwarnung und sieht keine gesundheitlichen Risiken. Tepco und die japanische Regierung nicken solche Thesen ganz selbstverständlich ab.
Wer seit der Nuklearkatastrophe geflohen ist, versucht sich in einem anderen Teil des Landes ein neues Leben aufzubauen. Wer keine finanziellen Mittel besitzt oder nirgendwo sonst Arbeit findet, bleibt zwangsweise in der Strahlenregion zurück. Die Geflüchteten reden allerdings nicht über ihre Vergangenheit, erzählen nichts von ihrem Herkunftsort. Viel zu groß ist die Angst – wir erinnern uns an die Zeit nach den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki 1945, wo Vergleichbares festzustellen war bzw. immer noch ist – vor Stigmatisierung. Mit Strahlenflüchtlingen möchte man nichts zu tun haben. Wird nach Eheschließung bekannt, dass die Partnerin bzw. der Partner aus diesem verstrahlten Gebiet stammt, führt das zumeist zur Trennung. Viele Menschen haben eine völlig unbegründete Angst, selber zu einem sogenannten Strahlenopfer zu werden.
Es gibt um das Atomkraftwerk allerdings auch Personen, die die Schuld nicht bei Tepco und der herrschenden Regierung sehen. Zumeist sind es Reisbäuerinnen und -bauern, die der verklärenden, bewusst täuschenden Politik auf den Leim gegangen sind. Sporthallen werden gebaut, Sportevents finanziert und Alibibeträge in die Region investiert. Damit möchte man die BürgerInnen ruhigstellen und das eigene Image schönfärben. Dabei sind eigentlich die vom Reisanbau lebenden Menschen ganz direkt betroffen: Denn der Reis, wie viele andere japanische Lebensmittel auch, die unter anderem für den Export in die ganze Welt bestimmt sind, weist eine erhöhte Strahlendosis auf und ist somit gegebenenfalls gesundheitlich nicht unbedenklich.
Offensichtlich ist, dass die regierenden Eliten und Stromkonzerne nichts aus der Katastrophe gelernt haben und nicht lernen wollen. Sie verwalten das entstandene Elend auf miserable Weise und versuchen daraus gar noch Profite zu erwirtschaften. Deshalb darf die Anti-AKW-Bewegung hierzulande wie auch in Japan nicht nachgeben. Der Druck muss erhöht werden, damit sich nirgendwo auf der Welt eine solche Katastrophe wiederholt. Und genau diese Notwendigkeit hat Kazuhiko Kobayashi mit seinem Vortrag abermals eindrucksvoll klargestellt.
Aus Fukushima lernen heißt: Sofort und weltweit alle Atomanlagen abschalten!
Bildquelle Artikelbild oben: „Compression Plant north of Daichi 2 (64)“ von Lucas Wirl unter der Lizenz CC BY-NC 2.0 via Flickr
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