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„Ich wünschte, ich müsste nicht losziehen und Lebensmittel aus den Tonnen fischen“

Müllcontainer für Papier und Pappe sowie Bioabfall und Kunststoffe hinter einem Supermarkt

Es ist bereits nach Mitternacht, die Straßen sind leer und es weht einem eine leichte Brise ins Gesicht. Tim zieht den Gurt seines Fahrradhelms fest, tritt in die Pedale und beginnt seine Suche nach essbaren Lebensmitteln. Nach wenigen Minuten erreicht er den ersten Supermarkt in dieser Nacht, steigt vom Fahrrad und schiebt die letzten Meter bis zum gut beleuchteten Hinterhof des Marktes. Er erzählt mir, dass dies ein wirklicher Geheimtipp ist, immerhin gibt es hier drei große Tonnen, in denen sich nahezu immer etwas finden lässt. „Die Überwachungskameras waren beim ersten Mal ein wenig befremdlich und abschreckend“, erzählt er, „aber auch daran gewöhnt man sich.“ Mit Handschuhen und Taschenlampe öffnet er den ersten Container, sichtet kurz den Inhalt und greift nach einer Packung Reis. Von außen sieht die Verpackung unbeschädigt aus und auch der Inhalt scheint makellos zu sein. Warum landet es trotzdem im Müll? Oftmals werden solche Produkte aussortiert, wenn das Mindesthaltbarkeitsdatum (MHD) überschritten wurde oder der Artikel sich schlecht verkaufen ließ und unnötig Regalfläche belegte. In diesem Fall hat der Reis seit drei Tagen das MHD überschritten, sodass es nicht verwunderlich ist, dass er sich nun im Müll finden lässt. Essbar ist er natürlich trotzdem noch, immerhin ist das Mindesthaltbarkeitsdatum nur eine Empfehlung der Industrie. Diese hat oftmals aus Profitgründen kein Interesse an haltbaren Produkten, setzt deshalb künstlich das Datum herunter und begründet dieses mit Qualitätssicherungsmaßnahmen. VerbraucherInnen verlassen sich zu oft auf diese Angabe, statt das Produkt auf seine Qualität und den Geschmack zu prüfen. Schließlich muss ein Produkt mit Erreichen des Datums meist nicht automatisch verdorben und ungenießbar sein.
Rund eine halbe Stunde ist vergangen, ehe Tim alle drei Container durchforstet hat. Auf dem Boden liegen einige Äpfel, fünf Bananen, Weingummis, eine Tüte Nüsse, schätzungsweise dreißig (!) Tüten verschiedenster Gewürze sowie mehrere Packungen Kartoffelpüree und Reis. Gerade die Äpfel sehen sehr gut aus und weisen keinerlei Druckstellen oder ähnliches auf. Bei den Bananen ist es der gleiche Fall. „Es ist von Markt zu Markt verschieden, wie viel sich finden lässt. Auch der Wochentag und die Jahreszeit sind ein wichtiges Kriterium. Die gefundene Menge ist für diesen Markt meist aber üblich“, antwortet er auf die Nachfrage, von welchen Faktoren die Anzahl der gefundenen Lebensmittel abhängt. Schnell wird der Fund in Plastiktüten in seiner Fahrradtasche verstaut, ehe er sich auf den Weg zum nächsten Markt macht.

Bei diesem ließen sich fast nie Lebensmittel finden, sondern sei dieser Supermarkt eher für Gegenstände wie Gläser, Blumentöpfe und andere Haushaltsgeräte bekannt. Doch was soll man beispielsweise mit kaputten Gläsern anstellen? „Auch hier wird längst nicht nur das entsorgt, was wirklich unbrauchbar ist“, entgegnet Tim. „Bei den Gläsern gibt es beispielsweise Sets, bestehend aus drei Gläsern, von denen eines im Laden kaputt geht, sodass das gesamte Set unverkäuflich wird und entsprechend in der Tonne landet.“ Der Kunde wünscht es eben so und würde meist nicht einmal reduziert die beiden anderen Gläser kaufen. Das Verhalten der Supermärkte verwundert, wenngleich hier ausschließlich die Bedürfnisse der Kundschaft bedient werden. Würde der Großteil der VerbraucherInnen seine Ansprüche herunterschrauben und nicht ausschließlich tadellose Produkte – besonders bei Obst und Gemüse – verlangen, wären die Müllcontainer längst nicht so voll. Unser Konsumverhalten ist also für solche Müllberge und diesen krassen Überfluss verantwortlich.
Sechs Container stehen in einer Reihe und sind bis zum Rand gefüllt. Schlimm riechen tut es aber meist nicht, findet auch Tim. Schlimm seien seiner Meinung nach allerdings Müllcontainer, die mit Fleischresten oder den damit verbunden Verpackungsresten befüllt sind. Das würde das Durchsuchen zumeist unmöglich machen, weil der faulige Gestank im schlimmsten Fall sogar Brechreiz auslösen kann. Oftmals würden solche Abfälle aber gesondert aufbewahrt und nicht mit den anderen Lebensmitteln in einer Tonne entsorgt. „Ärgerlich sind auch die etlichen Verpackungen mit verdorbener Wurst und ähnlichem, für die das Tier komplett umsonst gestorben ist“, merkt er dazu passend an.
In der letzten Tonne findet er dann drei original verpackte Energiesparlampen, prüft sie auf Unversehrtheit und steckt sie in seinen Rucksack. Ob sie wirklich noch funktionieren, weiß er zu diesem Zeitpunkt natürlich noch nicht. Vermutlich sind die Energiesparlampen entsorgt worden, weil sie noch eine alte Verpackung tragen und durch ein neueres Produkt des Herstellers ersetzt wurden.

Seine gefahrene Strecke scheint gut durchdacht, sodass er möglichst viele Märkte aufsuchen kann. Aber gerade beim ersten Mal war es sehr mühselig, weil Tim auch die Supermärkte aufsuchte, die ihre Container abschließen oder hinter einer hohen Gitterwand gesichert haben. „Die Handelsketten betreiben so einen hohen Aufwand bei der Entsorgung, weil sie teilweise mit dem Verkauf der Lebensmittel Geld verdienen. Es gibt dabei Unternehmen, die die Tonnen abholen und aus dem Inhalt Biogas gewinnen. Die Suche nach essbaren Lebensmitteln ist in Deutschland verboten, weil der Inhalt der Tonnen weiterhin Eigentum der Handelsketten bleibt. Laut Gesetz könnte mir diese Suche als Diebstahl und Hausfriedensbruch ausgelegt werden“, schildert Tim den Sachverhalt, ehe er bereits die erste Biotonne eines Discounters öffnet, bei dem er gerade angekommen ist.
„Würde sich jemand an frei zugänglichen Tonnen verletzen oder sich am Essen den Magen verderben, würden wir dafür haftbar gemacht“, äußert Stephanie Maier, die Pressesprecherin der Supermarktkette Rewe für die Region Ost gegenüber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.[1]
In Deutschland ist Conatainern bzw. Mülltauchen (so wird die Suche nach essbaren Lebensmitteln auch genannt) also gesetzlich verboten, wenngleich in Nachbarländern wie Österreich und der Schweiz dieser Vorgang erlaubt ist. In Deutschland scheinen Profitinteressen also einen deutlich größeren Stellenwert zu haben, immerhin könnte bei abnehmender Zahl der MülltaucherInnen mehr Geld mit der Versorgung von Biogasanlagen verdient werden und zudem wären mehr Menschen gezwungen, auf gewöhnliche Art im Supermarkt einzukaufen. Die genannten Bedenken der Supermarktketten wirken also nur wie eine Fassade, die die echten Gründe für ein solches Verbot verschleiern soll. Die Bundesregierung dürfte also nicht dem Druck der Lebensmittelindustrie nachgeben, sondern die Gesetzgebung zu Gunsten von Menschen wie Tim verbessern.

Die im Frühjahr 2012 veröffentlichte Studie des Verbraucherschutzministeriums bestätigt einmal mehr, dass eine Gesetzesänderung längst überfällig ist. Aus dieser geht hervor, das alleine in Deutschland durchschnittlich rund 11 Millionen Tonnen Lebensmittel jährlich im Müll landen. 1.850.000 Tonnen entfallen demnach auf Abfälle aus der Lebensmittelindustrie. Der Handel soll an der Gesamtmenge zwar nur einen Anteil von 5 Prozent – also 550.000 Tonnen – haben. Dieser Wert ist deshalb so auffällig gering, weil ein großer Teil an karitative Einrichtungen weitergegeben würde. Tim möchte diese Einschätzung nicht komplett teilen: „Ich kann zwar nur für meine örtlichen Gegebenheiten sprechen, wenngleich ich so viele noch essbare Lebensmittel finde, dass hier zumindest längst nicht das volle Potential an Spenden ausgeschöpft wird.“
Aber nicht nur Großverbraucher, Industrie und Handel gehen verschwenderisch mit Nahrungsmitteln um, sondern ist jeder einzelne Haushalt maßgeblich daran beteiligt. Das Ministerium beziffert die durch Haushalte verursachten Lebensmittelabfälle auf 6.670.000 Tonnen, was einem Anteil von mehr als 60 Prozent entspricht.[2] Zu große eingekaufte Mengen, falsche Lagerung, vergessenes Essen im Kühlschrank oder das blinde Vertrauen auf Mindesthaltbarkeitsdaten sind einige Gründe für diese enorme Verschwendung, an der wir alle beteiligt sind.
Aus der 2011 veröffentlichten Studie „Global food looses and food waste“ der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) geht hervor, dass weltweit etwa ein Drittel der produzierten Lebensmittel weggeworfen werden.[3] In Zahlen bedeutet das 1,3 Milliarden Tonnen ungenutzter Nahrungsmittel – laut Selina Juul, Gründerin der Organisation „Stop Wasting Food movement Denmark“, genug, um drei Milliarden Menschen ernähren zu können.[4]
Andere Studien kommen zu ähnlichen Ergebnissen, sodass feststeht, dass sich die Lebensmittelverschwendung zu einem immer größeren werdenden Problem entwickelt.

Tim möchte mit seinem Verhalten gegen diesen Überfluss ein Zeichen setzen. Finanziell ist er schließlich nicht auf diese Esswaren angewiesen. Viele MülltaucherInnen durchsuchen mehrmals in der Woche die Mülltonen der Supermärkte, was Tim mit seinem beruflichen Alltag (noch) nicht vereinbaren kann. Er zieht bislang ausschließlich am Wochenende los.
Die Biotonnen hat er längst durchsucht und ist schon wieder auf dem Weg zum nächsten Markt. Gefunden hat er beim letzten Markt nichts, was manchmal durchaus vorkommen kann. Das ist aber nicht zwingend ein Zeichen dafür, dass dort keine Lebensmittel mehr weggeworfen werden. Beim nächsten Ladengeschäft angekommen, braucht er gar nicht mehr vom Rad absteigen – die Tonnen sind weg. „Letztes Mal standen die Tonnen dort in einer Reihe. Die müssen das wohl mitbekommen haben“, meint Tim. Jetzt befinden sich die drei grünen Mülltonnen in einem Gitterkäfig. Vermutlich eine eindeutige Reaktion der Marktleitung aufs Containern. Er macht sich wieder auf den Weg.

Gelegentlich fährt ein Taxi die Straße entlang, während er mit Rad zum nächsten Markt unterwegs ist. Es geht gefühlt durch die gesamte Stadt. Vorbei an den zentral gelegenen Discountern, die ihre Müllcontainer hinter riesigen Gitterverschlägen gesichert haben. Nach und nach fängt es zunehmend stärker an zu schneien, was Tim aber nicht sonderlich stört: „Dieses kalte Wetter ist ideal, weil die Lebensmittel so länger frisch bleiben.“
Beim Ziel angekommen, stellt er das Fahrrad an der Gebäudewand ab, zieht seine Gummihandschuhe über und sichtet währenddessen bereits die Tonnen. Besonders die Biotonnen lassen sich nicht mehr schließen, weil sie bis zum Anschlag mit Nahrungsmitteln gefüllt sind. Äpfel, Karotten, Mandarinen, Orangen und Grapefruits lassen sich dort im ganz normalen Zustand finden.
Plötzlich biegt ein Lieferwagen in die Straße ein und hält bei den Mülltonnen an. Der Fahrer steigt aus und trägt ein Bündel mit Zeitschriften zur Hintertür des Marktes. Tim scheint das nicht zu stören, er sucht in Ruhe weiter. Angst hat er nicht, wie er selbst sagt: „Containern sollte nicht mit Angst verbunden werden. In fast allen Fällen wird man ohnehin von niemandem gesehen, sodass man sich darüber auch keine Gedanken machen muss. Wer allerdings zu früh loszieht, kann eventuell auf Personal treffen, welches sehr unterschiedlich reagieren wird. Entweder schicken sie einen wütend weg oder dulden es.“
Er selbst hat so eine Konfrontation noch nicht miterlebt, da er grundsätzlich erst deutlich nach Ladenschluss mit der Suche beginnt und dieses damit bewusst ausschließt.

Der Lieferwagen fährt davon und auch Tim möchte jetzt den Heimweg antreten. Es gibt Tage, an denen er noch deutlich mehr Märkte aufsucht, was bei der Menge der gefundenen Lebensmittel aber keinen Sinn macht. „Würde ich jetzt noch mehr Dinge finden, könnte ich die in so kurzer Zeit alleine nicht essen und so viel kann ich auch nicht verschenken. Dann ist für andere Leute auch noch etwas da“, meint er und tritt in seine Fahrradpedale.
Zu Hause angekommen, werden alle gefundenen Lebensmittel nochmals begutachtet und – gerade Obst und Gemüse – mit heißem Wasser gereinigt. Da kann es auch vorkommen, dass manches wieder im Müll landet, weil es dann doch eine zuvor übersehene Schimmelstelle oder ähnliches aufweist. Aus den gefundenen Lebensmitteln presst er sich nun Säfte, kocht Apfelmus und eine Gemüsesuppe. Was es dann die nächsten Tage geben wird, entscheidet er anhand der noch vorhanden Zutaten ganz spontan. Geschmacklich merkt man zumindest keinen Unterschied, sodass man nicht vermuten würde, dass die Nahrungsmittel aus dem Container stammen.
„Ich wünschte, ich müsste nicht mehr losziehen und all die Lebensmittel aus den Tonnen fischen, die durch unsere Überflussgesellschaft dort erst gelandet sind. Doch solange wir unsere Ansprüche nicht herunterschrauben und weiterhin erwarten, dass wir auch am Abend noch frische Produkte im Supermarkt vorfinden, werden wir an dieser krassen Verschwendung nichts ändern können. So werden wir den Welthunger und die Umweltprobleme nie in den Griff bekommen“, resümiert er, während die letzten Äpfel zu Saft verarbeitet werden.
Niemand muss Nachts durch die Stadt streifen und in Mülltonnen nach genießbaren Nahrungsmitteln suchen. Wir müssen viel früher ansetzen und die enorme Überproduktion beenden, die durch unsere Konsumansprüche erst entstanden ist. Am Abend erwarten wir noch frisches Brot beim Bäcker, verlangen stets gefüllte Regale, makelloses Obst und Gemüse und wollen Produkte, die um die ganze Welt transportiert werden mussten, um letztlich dann doch im Müll zu landen. Warum machen wir mit dieser absurden Verschwendung nicht einfach Schluss? Dann müssten Tim und viele weitere Menschen auch nicht mehr losziehen.

Bildquelle Artikelbild oben: „Müll“ von Tobias Goldkamp unter der Lizenz CC BY-NC-SA 2.0 via Flickr

Quellen:
[1] Frisches Obst aus dem Müll – FAZ (13.01.2013 12:04)
[2] Studie – Verbraucherschutzministerium (13.01.2013 14:55)
[3] Studie „Global food looses and food waste“ (13.01.2013 15:39)
[4] Food waste: a global tragedy (14.02.2013 21:45)

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2 Kommentare

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    Ethel
    2. März 2013 um 9:29

    Sehr, sehr guter Bericht, Danke! Ich selber finde es wirklich schrecklich wieviel weggeschmissen wird -schon allein bei der Ernte von Obst Einfach nur weil die Äpfel eine Schorfstelle haben, werden sie entsorgt. Ich könnt' kotzen. Naja, du hast mich mit deinem Post dazu bewegt, dass wenn ich ausziehe, ich sowas auf jeden Fall auch machen werde. -Egal ob ich nun darauf angewiesen bin oder nicht.

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    Thorge Ott
    2. März 2013 um 14:24

    Vielen Dank für deine Nachricht und das Lob. Es ist schön zu hören, dass dich der Bericht dazu bewegt hat – das sollte viel häufiger passieren. Allerdings wird es für MülltaucherInnen zukünftig sicher nicht einfacher, weil vermutlich immer mehr Müllcontainer abgeschlossen werden. Damit wird diese Problematik leider noch mehr verschärft.

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